Warum muss ein Fettstuhl von Beuys Kunst sein? Warum die Polyesterfiguren des Duane Hanson, die über hundert Jahre nach Madame Tussauds Wachsfiguren auch nichts anderes sind als hyperrealistische Menschendarstellungen? Warum muss ein schwarzes Quadrat Kunst sein, das genauso von einem Anstreicher als Farbprobe angefertigt wird oder eine Kinderzeichnung Paul Klees, die nicht anders aussieht als viele Kinderzeichnungen außerhalb der Kunst?

Natürlich. Ein sozialpolitischer Prozess kann auch kunstlos bleiben. Überall auf der Welt und zu allen Zeiten wurden Projekte und Werke erfolgreich abgeschlossen, ohne mit dem Kunstgedanken auch nur zu spekulieren. Menschen haben sich immer wieder Lösungen einfallen lassen, auch wenn es darum ging, anderen zu helfen, ohne auf den Kulturseiten auch nur erwähnt zu werden. Dem Heimleiter Gregor Hilvary zum Beispiel, der sich ein originelles Bettgehersystem ausgedacht hat, um Flüchtlinge vor der Abschiebung zu bewahren: Ihm wurde keine Kunstprofessur angetragen für seine Leistung. Nicht einmal öffentlich erwähnt durfte sein Einsatz werden, um die Durchführung seiner Absicht nicht zu gefährden. Wozu also Kunst?

Erstens. Mit jedem gelungenen Projekt, das als Kunst anerkannt wird, gewinnt der soziale Eingriff in bestehende gesellschaftliche Verhältnisse an Bedeutung. Das Wort "sozial" wird dann im Sprachgebrauch wieder ein klein wenig positiver verstanden und verwendet. So wie bestimmte "Ekelmaterialien" durch die Kunst plötzlich salonfähig gemacht werden konnten, können auch soziale Handlungen durch ihre Aufwertung im Kunstkontext den Nimbus des Bemühten oder des penetranten Helfersyndroms wieder abbauen.

Zweitens hilft der Mythos "Kunst", wenn es darum geht, einer Absicht – zum Beispiel im politischen Bereich – zum Erfolg zu verhelfen. 1989 beispielsweise entwarf die Künstlerin Patricia L. A. Paris eine Lichtinstallation. Eine lange, viel zu dunkle Unterführung in Whitechapel, Treffpunkt des Bösen und aller Halsabschneider in London, sollte mit vier Flutern ausgeleuchtet werden. Die Künstlerin gewann mit dem Entwurf tatsächlich einen Wettbewerb, konnte die Installation aber leider nie ausführen, weil die Gemeinde kurz vor dem geplanten Aufbau die Unterführung selbst ausleuchtete. Bei der Gelegenheit wurden dann natürlich auch gleich Müll und Taubenleichen weggeräumt. Frau Paris war erbost. Die geplanten Fluter hatten ihren Zweck verloren, und sie zog das Projekt zurück. Und doch war es ihre Idee gewesen, die Unterführung besser auszuleuchten. Ihre Absicht war sogar verwirklicht worden und hatte den gewünschten Erfolg, wenngleich sie dazu nichts anderes beigetragen hat, als die Planung ihres Kunstwerks. Mit Hilfe ihrer Kunst wurden Verantwortliche zum Handeln genötigt.

Das hätte sie vielleicht auch als gewöhnliche Bürgerin geschafft. Sie hätte dann bloß, wie achtzig andere vor ihr auch schon, einen Antrag auf bessere Beleuchtung einbringen müssen. Mit Formular, Ordnungszahl und Gebühren. Und Monate danach hätte sie dann einen Brief erhalten, mit dem darauf hingewiesen wird, dass die Umstände es im Augenblick nicht gestatten...

Drittens. Über die spannendste Sozialarbeit berichten die Medien weniger gerne als über das langweiligste Kulturgeschehen. Deshalb nutzt die WochenKlausur, wo es geht, diese Medien. Über Zeitungsartikel und Radiobeiträge kann auf Entscheidungsträger Druck ausgeübt werden. Es hat der WochenKlausur beispielsweise geholfen, dass der Kulturredakteur einer Wiener Radiosendung eine Liveschaltung zur Stadträtin legte und nachfragen konnte, warum denn der Arzt für ein Projekt zur medizinischen Versorgung von Obdachlosen nicht finanziert wird, wo das doch ganz im Sinne einer sozialdemokratisch regierten Gemeinde sein müsste und wo noch dazu von den KünstlerInnen alles bereits arrangiert worden wäre.

Viertens. Die Erfahrung der abgeschlossenen Projekte zeigt, dass eine unorthodoxe Vorgangsweise in manchen Bereichen Nischen eröffnet und brauchbare Lösungen anbietet, die mit den herkömmlichen Denkansätzen und Methoden etwa in der Wissenschaft, im Sozialwesen oder in der Ökologie sonst nicht erkannt worden wären. Wenn beispielsweise beim Projekt zur Verbesserung des Wohlbefindens in einer Schulklasse die österreichischen Normen zum Schulbau von der WochenKlausur kurzerhand ignoriert worden waren, weil sie den Anforderungen der SchülerInnen absolut nicht gerecht wurden, dann ist das eine Vorgangsweise, die von ArchitektInnen und RaumausstatterInnen, den Fachleuten also, nie ausprobiert worden war. Die ExpertInnen müssen sich nämlich, um in ihrem Beruf keine Nachteile zu bekommen, an die bestehenden Vorschriften halten, selbst wenn diese ganz offensichtlich widersinnig sind.

Kommunale Einrichtungen und soziale Institutionen sind gelegentlich überfordert. Anstehende Aufgaben bleiben dann unbearbeitet. Ungelöst trotz naheliegender Lösungsmöglichkeit bleiben manche Probleme aber auch, wenn die zuständigen Stellen befangen sind, wenn parteipolitische Raison, übergeordnete Ziele, finanzielle oder zeitliche Engpässe vorliegen oder wenn Kompetenzstreitigkeiten, Sachzwänge und hierarchische Instanzen im Wege sind. Manch ein Mangel kann überhaupt erst von außen erkannt werden. Über gewisse Freiheiten, die ihr mittlerweile zugestanden werden, eröffnet sich für die Kunst hier ein Bereich, der diese Mängel kodifizierter Politik formulieren, und deren Behebung paradigmatisch vorführen kann. Aber die Möglichkeit der Kunst, ein Problem unkonventionell, naiv und frisch anzugehen, ist im Prinzip die Möglichkeit eines jeden, der von außen an ein Problem herantritt.

Manchmal, wenn an einer Problemlösung allzu lange gearbeitet wird, werden durchschnittliche Schwierigkeiten zu unüberwindbaren Aporien. Ein Beispiel: Nachdem die WochenKlausur im Zusammenhang mit einem Projekt zur medizinischen Versorgung Obdachloser von der Stadt Wien eindringlich auf die Schwierigkeit hingewiesen worden war, einen Arzt für eine solche Tätigkeit zu finden, und nachdem die Stadtverwaltung auch über die jahrelangen, erfolglosen Bemühungen in dieser Richtung berichtete, schien dieses Hindernis für die Gruppe unüberwindbar. Wie sollte von den KünstlerInnen so ein Arzt gefunden werden, wenn die Gemeinde schon seit Jahren ohne Erfolg auf der Suche war? Die Gruppe probierte es trotzdem und gab eine Annonce in den einschlägigen Ärztezeitungen auf. Mit Erfolg. Dreißig seriöse BewerberInnen meldeten sich innerhalb weniger Tage. Trotz der umfangreichen Bemühungen seitens der Gemeindeverantwortlichen war offenbar niemand auf die Idee gekommen, eine einfache Anzeige in einem Fachmagazin aufzugeben.

Was unvermittelt zur Psychologie der KünstlerInnen führt und zu den Fähigkeiten, die sie von anderen unterscheiden. Zunächst unterscheiden sich KünstlerInnen von anderen gar nicht. Dann aber doch zumindest in ihrer Entscheidung, KünstlerIn zu sein. Gelegentlich stehen hinter dieser Entscheidung basale Gründe. Fragt man – wenig psychoanalytisch – welche das wären, ergibt sich eine reiche und unbrauchbare Palette. Dass KünstlerInnen durch Sensibilität früher als andere merken, wohin Trends ziehen, dass sie die Fähigkeit besitzen, Interesse auf Probleme zu lenken, wo andere keine sehen, dass sie in bestimmten Bereichen feiner differenzieren, Themen erfinden, die Aufmerksamkeit erregen und ähnliches.

Das alles kann nicht wirklich nachgewiesen werden. Doch zieht die Worthülse Kunst immerzu wie ein Magnet unkonventionell denkende Geister an und unangepasste Kräfte, die sich nicht leicht einordnen wollen in einen geregelten Arbeitsablauf, in eine programmierte Berufskarriere mit Pensionsdenken und Sicherheitsnetzen.

Für die Konzeption und Durchführung sozialpolitischer Programme bedarf es nicht unbedingt der Kunst. Schließlich gibt es dafür auch manch andere ausgebildete Fachkräfte mit ähnlichen Aufgaben. Doch warum eigentlich wirft niemand den HerausgeberInnen von Zeitungen vor, sie mögen Politik den PolitikerInnen überlassen?

In der Tat gibt es keinen Grund, warum KünstlerInnen bessere Ideen und Lösungsstrategien haben sollten. Umgekehrt gibt es allerdings auch nicht viele Gründe, warum solche Eingriffe von KünstlerInnen – wie von allen anderen Menschen auch – nicht durchgeführt werden sollten, wenn sie doch effizient sind. Die Übernahme von Verantwortung über tradierte Zuweisungen und Arbeitsteilungen hinweg kann zur Pflichtübung werden, wenn ganz offensichtliche Mängel anstehen, deren Beseitigung keines jahrzehntelangen Studiums und keiner einschlägigen Praxis bedürfen. Wenn diese Übungen in den Kunstinstitutionen von Kunstschaffenden durchgeführt werden und wenn sie von einer Gemeinschaft als Kunst anerkannt werden, sind sie Kunst.